Wenn ich heute zurück blicke, war meine Vorstellung von der Liebe und all ihren romantischen Zügen sehr sehr idealistisch und es macht mich fast krank, wenn ich daran denke, wie blauäugig ich mir das ganze vorgestellt habe. Ich habe wahrscheinlich unendlich viele Liebesfilme gesehen, den Helden hinterher getrauert und immer geglaubt, dass es tatsächlich den einen Mann fürs Leben gibt, der irgendwann (wenn es das Schicksal will) in mein Leben tritt. Ich hatte Tagträume über Ritter, die mich aus meinem Dörnröschenschlaf erlösen, über lange Spaziergänge am Strand, über leidenschaftliche Küsse im Abendrot. Ich träumte vom perfekten Ehemann in meinem perfekten Häuschen, unglaublich hilfsbereiten Nachbarn, die auf unsere zwei wundervollen Kinder aufpassen, während wir mit unserem Hund spazieren gehen.
Ich weiß, davon wird einem fast schlecht. Ich habe immer gedacht, dass die wahre Liebe mit einem Kuss beginnt; dass wenn man seinen Seelenverwandten zum ersten Mal küsst, ein Feuerwerk der Gefühle um einen herum passiert und dass man in einem Bruchteil von einer Sekunde weiß: wir sind dafür bestimmt auf immer und ewig zusammen zu sein. Soviel dazu, die Realität sah leider anders aus und auf ein Mal sind all meine Vorstellungen wie in einer Seifenblase zerplatzt.
Es war ein Sommertag auf einem Spielplatz. Ich und Johannes haben zusammen im Sand gespielt und ein unglaubliches zu Hause für Regenwürmer gebaut, als es gerade anfing zu regnen. Wir haben uns verzweifelt unsere mühsam gesammelten Regenwürmer geschnappt und sie in einem Marmeladenglas verstaut, das unter dem Klettergerüst versteckt war. Wir haben uns in die andere Ecke gequetscht des Klettergerüstes gequetscht und uns eng aneinandergekuschelt. Wir verbrachten ein paar Momente damit über die Regenwürmer zu reden und dann sagte Christopher einfach: „Hey, lass uns küssen“. „OK“ hab ich gesagt, und so haben wir uns dann geküsst. Es war so peinlich; mein Mund war geschlossen während seiner sperrangelweit geöffnet war und seine Zunge versucht hatte, meinen Gaumen zu erdolchen. Ich war erschrocken und habe mich zurückgezogen. Ich wusste nicht, wie ich mit diesem ersten Kuss umgehen sollte.
Obwohl mein erster Kuss eine Katastrophe war, habe ich es darauf geschoben, dass es nicht aus Liebe geschehen ist und wir einfach nicht bestimmt füreinander waren. Deshalb betrachtete ich das Ganze von da an als die Generalprobe für den richtigen, wahren ersten Kuss.
Jahre sind vergangen und ich war immer noch nicht über die Generalproben hinausgekommen. Ich hatte Freunde, bei denen ich tatsächlich dachte, ich sei verliebt, aber es hat eigentlich immer etwas gefehlt. Ich fühlte nicht dieses Kribbeln im Bauch, egal wie hart ich auch versucht habe „mich zu verlieben“. Ich konnte es einfach nicht. Vielleicht wollte ich es zu sehr oder vielleicht war es auch einfach nicht an der richtigen Zeit und ich einfach nicht dazu bestimmt zu lieben. Deshalb war ich auch jahrelang als Single unterwegs und genoss durchaus meine Freiheiten und Unabhängigkeit. Klar gab es dazwischen mal ein Kuss hier und dort, ein paar Irrgänger sozusagen, aber immer noch keinen Kuss, der eingeschlagen hätte wie ein Blitz und mein inneres Feuer entfachte. Es war genau zu dem Zeitpunkt, als ich realisierte, dass ich die ganze Zeit am falschen Ort gesucht hatte. Ich habe nichts für meine männlichen Gegenüber empfunden, weil das Bauchkribbeln immer von meinen Freundinnen ausgelöst wurde. Ich vermute, das war eine einschneidende Veränderung für mich, weil ich nie daran gedacht habe, dass ich mich von Frauen angezogen fühlen könnte. Das fing erst in meinen letzten Studienjahren an, aber wenn ich heute zurück blicke, waren die Anzeichen eigentlich immer da.
An dem Tag, an dem mein Herz das erste Mal Luftsprünge wegen einer Frau machte und mich die Realität förmlich einholte, kann ich mich heute noch so erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Sie war eine unglaublich schöne und selbstbewusste Frau. Ich konnte meinen Augen einfach nicht von ihr lassen, geschweige denn ein Gespräch mit ihr anfangen. Irgendwann haben wir uns dann aber doch unterhalten und wir wurden Freundinnen und ich konnte meinen allerersten Kuss noch einmal neu erleben… Es war einfach so, wie ich es mir immer vorgestellt habe, dass mein Ritter endlich angekommen ist. Wir lagen auf unseren Rücken, nebeneinander im Dunkeln, die Morgensonne noch ein paar Stunden entfernt und trotzdem waren wir beide hellwach.
Bevor ich irgendetwas denken konnte, legte sie ihre Hand in meine und genau in diesem Moment drehte sich mein ganzer Magen um, mein Herz pochte wie wild, meine Handflächen wurden schweißnass und mein Mund trocken wie in der Wüste. All diese Gefühle waren komplett neu für mich und sie war definitiv kein Ritter. Ich habe mich gefühlt wie eine 12-Jährige: verwirrt, aufgeregt und nervös, so als ob ich noch nie jemanden in meinem Leben geküsst hätte. Und dann war es soweit: unsere Köpfe drehten sich zueinander und wir küssten uns, es war wie ein Filmkuss.
In diesem Moment wurden all meine Gedanken und Vorstellungen, die ich jemals über die Liebe hatte, in Frage gestellt. Meine ganze Welt war auf einmal voller Ungewissheit. Die ganze Zeit über dachte ich, dass sich ein Mann und eine Frau verlieben, aber auf einmal fühlte ich all das für eine FRAU. Plötzlich habe ich begriffen, dass die Idee, die ich als kleines Mädchen von der Liebe hatte, nichts mit meinen wahren Gefühlen zu tun hatte, sondern mit den Vorgaben der Gesellschaft.
Seit diesem ersten wahren Kuss war ich in einigen bedeutungsvollen Beziehungen mit Frauen und habe nichts anderes als Liebe empfangen und gespürt. Zwar nicht diese idealistische Liebe, von der ich als Kind geträumt habe, aber wirkliche und verbundene Liebe.
Wenn wir von Seelenverwandten reden, ist es nicht so, dass es genau die eine perfekte Seele da draußen für uns gibt, sondern dass wir uns in eine bestimmte Seele verlieben. Liebe ist die Verbindung, die wir erschaffen, wenn wir die Schönheit einer Seele erkennen. Liebe ist reichlich vorhanden und zugänglich für alle von uns, sie ist niemandem etwas schuldig und daher verurteilt sie nicht. Wenn wir lieben, reichern wir uns ein Verständnis für den Geist und die Herzen an und wir helfen unseren eigenen Seelen zu wachsen.